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Predigt am 16. 11. 2014 Chasan Leah Frey-Rabine

Im Judentum spielen Gedächtnis und Erinnerung eine große Rolle. In unterschiedlichen Zusammenhängen erscheint das Wort sachor (erinnern) 169 Mal in unserer Bibel.

Was aber ist Erinnerung? Und warum sagt der Baal Shem Tow, dass Erinnerung das Geheimnis der Erlösung ist und Vergessen das Exil verlängert?

Beginnen wir mit Erinnerung: Davon gibt es zweierlei Arten:
Das passive Erinnern an die Vergangenheit – es war einmal. Dies ist ein Erinnern durch denken, ein lineares Geschichtsverständnis mit Anfang und Ende.

Das aktive Erinnern – die Vergangenheit in der Gegenwart erleben – es ist. Dies ist ein Erinnern durch tun, ein zyklisches Geschichtsverständnis – ein fortwährendes Bestehen der Geschichten, die in uns und durch uns weiterleben. Geschichten, aus denen wir immer neue Weisheiten und Richtlinien gewinnen und die wir so in Taten umsetzen.

In der Lesung aus dem älteren Testament (Deuteronomium Kap. 6) hörten wir den ersten Absatz des Schema Jisrael – eigentlich unser einziges „Glaubensbekenntnis“. Darin steht, dass wir diese Worte nicht nur selbst in unsere Herzen einschließen sollen, es heißt auch darin, dass wir sie unseren Kindern einschärfen und sie stets sprechen sollen – zuhause und unterwegs, während des ganzen Tages vom Aufstehen bis zum Schlafengehen – das heißt fortwährend. In der Tat, wir wiederholen diesen ersten Absatz mindestens drei Mal täglich, das letzte Mal unmittelbar vor dem Einschlafen. Es beginnt mit höre, und gleich darauf folgt das Tun. Denn das Judentum ist keine Religion des Glaubens, sondern eine des Erinnerns und des Tuns.

Mordecai Kaplan, Gründer der Reconstructionist Bewegung, erkannte, dass religiöse Identität aus drei Komponenten besteht: Glaube, Zugehörigkeit, Handeln. Im westlichen, christlich geprägten Denken, steht Glaube an erster Stelle, und zwar so fest gegründet, dass „Glaube“ und „Religion“ zu austauschbaren Begriffen geworden sind. Im Judentum dagegen steht Glaube an weit entfernter, an dritten Stelle. Unsere Identität ist in unseren Ritualen, Bräuchen und Traditionen gegründet.

Ein Beispiel: Wenn wir jedes Jahr beim Pessachfest gemeinsam die Geschichte über die Befreiung aus der Knechtschaft und von dem Auszug aus Ägypten lesen, steht in der Einleitung, dass wir diese Geschichte so betrachten sollen, als ob wir persönlich dabei wären – wir sollen uns hineinversetzen und das Geschehen mit Haut und Haaren erleben. So lebt die ursprüngliche Geschichte als Ereignis der Gegenwart immer wieder neu auf. In der heutigen Zeit geht es z. B. oft um soziale Gerechtigkeit; sie beschränkt sich nicht auf das Judentum, sondern schließt die ganze Welt mit ein.

So bleiben auch unsere Gebote und Satzungen, die überwiegend mit unserem Verhalten gegenüber anderen Menschen, unseren Tieren und der Umwelt zu tun haben, stets gegenwärtig. Wir brauchen sie nur mit Verstand zu lesen.

Durch aktives Erinnern bekommen alte Geschichten eine immer neue Relevanz. Wir lesen unsere Thora (die ersten fünf Bücher unserer Bibel) jedes Jahr aufs Neue wieder – Wort für Wort, von Genesis bis Deuteronomium. Und es wird nie langweilig! Ganz im Gegenteil: Wir sind immer ein Jahr älter; wir haben Erfahrung hinzugewonnen; unsere Perspektiven haben sich geändert. Ich habe früher die unendlich detaillierten Baupläne für das Stiftszelt und die sich monoton wiederholende Auflistung der Opfergaben der Stammesfürsten als sehr langweilig empfunden. Aber jetzt bin ich mehr und mehr in der Lage, die versteckte Symbolik und die kleinen, spannenden Abweichungen zu entdecken. Mein Horizont erweitert sich ständig, und ich verspüre unsagbare Entdeckungsfreude bei jeder neuen Begegnung! Die Texte binden mich ein in die große Kette des Judentums. Ich füge meine Erfahrung hinein und reiche sie weiter an die nächste Generation – Erfahrung bindet uns an unsere Geschichte – eine Verbindung, die sich aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstreckt.

Wir Juden sind ein Volk des Bundes – unser Bund mit unserem allgegenwärtigen, unsichtbaren, unbeschreiblichen, unbegreiflichen und ungreifbaren Gott, dessen Namen wir nicht einmal aussprechen können weil die vier Buchstaben, die für diesen Namen stehen: jud heh waw heh stimmlose Konsonanten sind. Es entsteht nur Luft – eigentlich ein Lufttransfer. Wir atmen das Allgegenwärtige ein, diese Luft fügt sich unserem Wesen zu, sie fließt wieder aus uns heraus – ein ständiger Austausch zwischen uns, unserem Schöpfer und aller Schöpfung.

In unserer Bibel wird sehr häufig an diesen Bund erinnert. Gott erinnert uns an unseren Teil der Abmachung: Gebote und Satzungen halten, damit wir ein gutes Leben führen mögen. Die Konsequenzen des Nicht-Haltens sind anschaulich dargelegt. Immer wieder werden wir daran erinnert, dass Gott uns aus der ägyptischen Knechtschaft befreit und uns zu seinem Volk gemacht hat. („Ich bin es, Adonai, Euer Gott, der Euch aus Ägypten befreite … daher sollt Ihr …“). Zum Beispiel, im Kiddusch (die Segnung von Wein und Brot) am Schabbat-Abend kommen immer zwei Erinnerungstexte: sikkaron l’ma’asseh bereischit (ein Andenken an die Arbeit am Anfang) und secher litzi’at mitzrajim – in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
Schabbat und Feiertage haben alle mit Erinnerung zu tun. Schabbat sollen wir hüten und wir sollen erinnern – shamor w’sachor.

Eigentlich sind erinnern und hüten untereinander austauschbar. Indem wir Schabbat hüten, erinnern wir uns an die Schöpfung – sechs Tage schuf Gott die Welt und am 7. Tag ruhte Er. Schabbat ist der Grundstock unseres Bundes. Wenn wir Schabbat halten, erinnern und bezeugen wir, dass Gott der Schöpfer des gesamten Universums ist. Gleichzeitig praktizieren wir imitatio dei: Wir folgen mit unserem menschlichen Vermögen dem göttlichen Beispiel; wir arbeiten nicht und wir sichern, dass alle Lebewesen in unserem Haushalt – Mensch und Tier – ruhen sollen und dürfen. Eine revolutionäre Idee in der Entstehungszeit und heute, in unserer hektischen Welt, relevanter denn je.

Aber warum erinnern wir uns auch an den Auszug aus Ägypten? Was hat der Exodus damit zu tun? Hier geht es um Freiheit. Sklaven haben weder Freiheit noch Auszeit. Wir erinnern uns Woche für Woche dass wir einst Sklaven waren, aber nun frei sind. Und Freiheit beinhaltet nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Wir müssen unseren Teil des Bundes halten; gleichzeitig aber erwarten wir von Gott, dass Er es ebenso tut.

Ein Bund ist immer reziprok – eine gegenseitige Verpflichtung. Vier Mal erinnert sich Gott an Seine Pflichten uns gegenüber (wa’jiskor elohim …):
1. An Noah und die Tiere in der Arche (Genesis 8:1)
2. An Abraham, um das Leben seines Neffen Lot bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrah zu retten (Genesis 19:29)
3. An die kinderlose Rachel (Genesis 30:22)
4. An Seinen Bund mit Abraham, Jitzchak und Jakob (Exodus 2:24). Diese ist einzigartig, denn sie verheißt den ewigen Bund mit uns allen. Stammväter Abraham, Jitzchak und Jakob sind bereits tot, der Bund aber lebt weiter.

Manchmal jedoch muss Gott an Seinen Teil des Bundes erinnert werden: Nach dem Geschehnis des goldenen Kalbes (Exodus 32) will Gott in Seinem Zorn das gesamte Volk vernichten und aus Moses ein neues Volk machen. Moses erinnert Ihn an Seinen Bund mit Abraham, Jitzchak und Jakob und mahnt, dass die Ägypter über das Brechen dieses Bundes spotten würden. Gott muss einsehen und nachgeben, denn auch Gott muss lernen! Das Ergebnis dieses Lernprozesses: Egal was wir tun, egal wo wir uns auf der Welt befinden, unser Volk wird nie ausgelöscht; dank des Bundes wird ein Rest von Generation zu Generation überleben.

Der britische Rabbiner Jonathan Margonet sagte, dass das wirkliche Wunder, das nach der Schoah geschehen ist, darin besteht, dass die Juden den Bund mit Gott erneuert haben – starke Worte aus der Mitte eines starken Volkes. Aber mit Gott hadern geht zurück bis zum Buche Hiob und setzt sich spätestens nach jeder neuen Katastrophe fort – unter der Sonne nichts Neues!
Zusätzlich zu Schabbat, zu den Feiertagen und zu der ganzen Palette biblischer Geschichten, an die wir ständig erinnert werden, gibt es noch einen wichtigen Aspekt des Erinnerns: Erinnern an unsere Verstorbenen.

Jiskor – das Gebet für die Verstorbenen, kam relativ spät in unsere Liturgie hinein – zuerst nach den ersten Kreuzzügen und dann erweitert nach den Chmielnicki Pogromen (Aufstand ukrainischer Kosaken) im 17. Jahrhundert. Es ist eng verbunden mit dem Andenken an unsere unzähligen Märtyrer und Märtyrerinnen, ist aber gleichzeitig ein Andenken an unsere Nächsten. Wir sagen Jiskor während des Morgengottesdienstes vier Mal im Jahr: zu den drei Pilgerfesten (Pessach, Schawuot, Sukkot) und auch zu Jom Kippur. In diesem Gebet bitten wir Gott, unserer Verstorbenen zu gedenken – (jiskor elohim – genau, wie die vier Mal, die Gott sich an Seinen Bund erinnert). Wenn es um unsere Nächsten geht, dann geht es unsererseits auch um das Tun: Wir geloben, tz’dakah (eine Spende) zu geben. tz’dakah bedeutet Gerechtigkeit – tz’dakah ist eine ganz wichtige mitzwah (Gebot). Wir teilen mit anderen, damit es uns allen besser geht; denn … einst waren wir Sklaven in Ägypten…

Wenn wir unsere Verstorbenen schriftlich erwähnen, folgen dem Namen zwei Buchstaben: sajin und lamed – die Abkürzung für sichrono/ah liw’rachah – möge sein/ihr Andenken ein Segen sein; das heißt, die Leben der Verstorbenen sollen durch unsere Erinnerungen Bedeutung behalten. So auch unsere Spenden, die wir zum Jahrestag des Todes verrichten – wir spenden im Namen unserer Verstorbenen für einen guten Zweck, damit ihre guten Namen weiter bestehen.

Nun das Exil. Warum wird das Exil durch vergessen verlängert? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir Exil sehr lebendig definieren: Exil ist nicht Verbannung oder Vertreibung an sich, es ist vielmehr die Heimatlosigkeit – ein orientierungsloses Herumirren und Nicht-landen-Können. Wie Mathilde Wesendonck in ihrem Gedicht „Im Treibhaus“ schreibt: „…unsere Heimat ist nicht hier.“ (Richard Wagner hat diese fünf fast psalmen-artigen Gedichte wunderbar vertont.) Oder der rastlose Protagonist der „Winterreise“-Gedichte, dieser Serien-Scheiterer, wie ich ihn gerne nenne, der fremd eingeht und fremd wieder auszieht und nie einen steten Boden unter den Füßen verspüren kann. Für mich, bekennende Diaspora-Jüdin, hat es nicht mit Ort, sondern mit Ortung zu tun. Das Judentum hat sich seit dem Jahr 70 unserer Zeitrechnung neu konstituiert und entwickelt sich ständig aufs Neue, wo immer es auf der Welt eine Heimat findet. Das Zeitalter der Tempel und der Opfer ist lange vorbei, aber unsere jüdische Identität ist nicht daran gebunden. Und unsere Identität ist auch nicht nur an ein Land gebunden. Das „Gelobte Land“, das wir im Herzen tragen, ist für manche von uns tatsächlich der Staat Israel, aber es geht weit darüber hinaus, wenn es wirklich Bestandteil unserer aller Identität sein soll. Denn diese Identität ist so vielfältig wie es die unterschiedlichen Orte sind, an denen wir neues Leben aufbau(t)en. Es widerspiegelt sich in der enormen Vielfalt unserer Literatur, unserer Musik, unserer Philosophie, Politik und Wissenschaft, und auch in unserer Liturgie. Es gibt nur eine Voraussetzung dazu: Wir dürfen in unserer herrlich bunten Vielfalt nie vergessen, dass wir Juden sind – selbst wenn wir nie eine Synagoge besuchen! Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist das, was uns verbindet, wo immer wir uns befinden. Gleichzeitig stehen wir aber ewig im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Abkapselung und es ist schwer, das Gleichgewicht zu halten. Manche gehen bewusst, manche unbewusst ganz in der Assimilation auf und verlieren allmählich ihre jüdische Identität. Viele finden eine neue Orientierung, aber bei weitem nicht alle. Und das ist, wie wir alle wissen, nicht nur ein jüdisches Phänomen. In unserer lauten, mit Reizen aller Art überfluteten Welt, ist es sehr leicht, die Orientierung zu verlieren und rastlos von Ziel zu Ziel zu hasten. Dann überhören wir die kleinen Signale unserer innewohnenden Ortung – diese kol d’mama daka – die stille, dünne Regung, die der Prophet Isaiah verspürte und als Gottes Stimme erkannte. Wir vergessen, in uns hineinzuhorchen, und so verlängern wir unser Exil.

Manchmal jedoch werden die Signale so stark, dass wir endlich auf sie aufmerksam werden müssen. So erging es mir. Ich habe mich immer irgendwie jüdisch gefühlt, konnte aber nie wirklich Anschluss finden. Wie Sie auf meiner Website lesen können, bin ich nicht in der großen, amerikanisch-jüdischen Infrastruktur aufgewachsen, sondern in einem kleinen Eisenerz-Abbaugebiet in Minnesota, bevölkert überwiegend von Menschen schwedischer, norwegischer, finnischer, kroatischer, serbischer und slowenischer Herkunft. Wir waren praktisch die einzige jüdische Familie, gut integriert, bis auf die religiöse Zugehörigkeit. Fast alle gehörten einer Gemeinde an, bis auf uns! Ich durfte mit meinen Freundinnen alle möglichen Kirchen besuchen, sang auch später in fast allen Kirchen, war aber immer Außenseiterin. Und in der Universität, endlich in der Nähe jüdischer Infrastruktur, konnte ich auch, aufgrund der mir fehlenden Anknüpfungspunkte, nicht wirklich landen. Das Theater wurde meine einzige richtige Heimat, aber irgendetwas fehlte mir immer. So machte ich eine lange, recht interessante Wanderung durch die Welten der Religionen und Philosophien, stets auf der Suche und nie zufrieden. Aber dann, ganz unerwartet (oder auch nicht?), wollte meine jüdische Seele nicht mehr übertönt werden; ich musste endlich auf sie hören und mich aus meinem selbst auferlegten Exil lösen. Allmählich habe ich den von meiner amerikanischen Familie fallen gelassenen Faden ergriffen und mit ganz eigenen Farben in den jüdischen Bilderteppich wieder eingewebt. Das Lied „Im Treibhaus“ – mein ewiger Begleiter seit der ersten Begegnung, als ich 19 war – ist nicht mehr stärkster Ausdruck meiner Seele. Nun stehe ich hier, freudig staunend, dass ich so geortet, so integriert geworden bin – in mir selbst, in der Vielfalt des Judentums und in der Vielfalt unserer großen Welt. Das wünsche ich Ihnen allen, dass Sie nicht nur einen Ort, sondern eine Ortung haben mögen, so dass Sie auf festen Füßen stehen können, wo immer auf der Welt Sie auch sind.

Ich danke Ihnen, dass ich diese Worte mit Ihnen teilen durfte, und wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.