Geboren und aufgewachsen bin ich in Crosby, Minnesota / USA, weitab von jeglichen jüdischen Einrichtungen. Ich bin dankbar, dass meine Eltern zuhause ein wenig Jiddischkeit bewahrten, allerdings in einer Art, die ich als »ethnisch« bezeichnete – Kerzen, Wein und Challah (aus dem weit entfernten St. Paul), und einige wenige Feiertagstraditionen.
Als ich klein war, bekam ich zumindest Einblick in das Leben, das die Familie meines Vaters einst geführt hatte. Zeyde davnete jeden Tag. Zum Taschlich gingen wir mit ihm an den See, und ich erinnere mich, wie er Kiddusch beging und »slach lanu« sang – eine der ersten Melodien, die ich kannte. Jedoch bestand meine jüdische Identität insbesondere darin, dass wir – in diesem multikulturellen Bergbau- Gebiet – keiner der zahlreichen religiösen Gruppierungen angehörten.
Juden, die sich darüber wunderten, warum meine Familie so weit entfernt von anderen Juden wohnen wollte – ein Rätsel, das mich heute noch beschäftigt. Warum blieb die Familie meines Vaters in Crosby, nachdem fast alle anderen Juden weggezogen waren? Warum hat Zeyde seine jüdische Tradition nicht weitervermittelt? Bei den Dingen, die ich beim Ausräumen meines Elternhauses in einem Karton fand, befanden sich unterschiedliche Gebetbücher, ein Hebräisch-Jiddischer Tanach, drei winzige tallitot katanot und fünf Paar Tefillin, je ein Paar in Taschen, bestickt mit den Initialen meines Vaters und denen meines Zeyde. Warum riss der Faden? Was führt mich dazu, ihn zu ergreifen, ihn wieder einzuweben in den jüdischen Bilderteppich und meine eigenen Farben hinzuzufügen? Weshalb habe ich so lange gebraucht, und warum waren die Umwege so weit? Ich fühle mich wie Parsifal!
Ja, Wagner, mein anderes, mein Paralleluniversum: Als Kind träumte ich davon, und als Erwachsene hatte ich das große Glück, als Opernsängerin darin zu weilen. Warum? Hat die tiefere Bedeutung jener archetypischen Figuren eine Saite in mir zum Klingen gebracht? Oder hat der Gesang dazu beigetragen, meine spirituelle Sehnsucht zu stillen?
Als ich 1971 nach Deutschland kam, war das jüdische Leben in diesem Lande dabei, wieder zu erwachen. Mit einem nicht-Jüdischen Ehemann und unserem Theaterleben war es leicht, Distanz zu wahren. Nach den späteren Veränderungen in meinem Leben fiel es mir zunehmend schwer, meine jüdische Seele gleichsam in Schach zu halten. Im Jahr 2001 fand ich zum Egalitären Minjan in Frankfurt. Hier lernte ich Daniel Kempin kennen und schätzen, den Vorbeter des Egalitären Minjan. Er gewährte mir großherzig den Freiraum, den ich für meine ersten Schritte auf meinem neuen Weg benötigte. Wir achten einander, wir lernen oftmals gemeinsam – kurz, uns verbindet seitdem eine kollegiale Zusammenarbeit, eine tiefe Freundschaft, die uns beiden viel gibt.
Als Rabbinerin Elisa Klapheck im Jahr 2004 zu uns kam, ließ sie mich Teile der Gottesdienste leiten und lehrte mich das Lejenen der Thora. Meiner Unwissenheit tief bewusst, arbeitete ich zielstrebig darauf hin, die genau richtigen Worte und Töne zu singen. Langsam reifte in mir die Erkenntnis, dass ich diese Musik nicht nur aufführen wollte. Ich musste mehr in die Tiefe gehen. Rabbinerin Klapheck und Chasan Jalda Rebling ermutigten mich, Aleph (Alliance for Jewish Renewal) kennen zu lernen. Während der unbeschreiblich wunderbaren ersten Woche beim Davvenen‘ Leadership Training Institute konnten meine Seele und mein Selbst zueinander finden, mein zwiespältiges Ich begann, sich langsam und harmonisch zu formen. Hier befand sich die größte Gruppe von Juden, die ich je in meinem Leben erlebt hatte, und ich gehörte ganz selbstverständlich dazu! Ich lachte nicht mehr ungläubig über den Vorschlag, ich solle Chasan werden. Ich begann zu witzeln, dass ich nun eine Brücke bauen würde zwischen Walhalla und Ohalah (Rabbiner-Kantorenkonferenz für Jewish Renewal). Zwar wagte ich kaum zu glauben, ich wäre imstande, dieses weit entfernte Ziel zu erreichen, jedoch ich erstrebte es mit ganzer Kraft und mit unbeschreiblicher Freude.
Im Januar 2014 ordinierten mich Rabbi Zalman Schachter-Shalomi and Hazzan Jack Kessler zur Chasan. Meine jüdische Seele hat ihren Frieden gefunden. Ich bin tief dankbar.